Wohnen + Leben
Ein Zuhause für Selbstbestimmung. 10 Jahre gelebte Inklusion.
Dass Kinder irgendwann flügge werden und das familiäre Zuhause verlassen, ist für die meisten Familien normal. Auch bei Familie Töpel aus Fallersleben kam die Zeit, als nach und nach die Kinder erwachsen wurden. Als Zweitältestem der vier Geschwister war daher auch Jonas Töpel klar, dass er irgendwann in den eigenen vier Wänden wohnen würde. Und doch war sein Weg ein ganz anderer, da er von Autismus betroffen ist.
Mit viel Engagement setzten seine Eltern die Idee einer inklusiven WG, der „Pauli-WG“ in Fallersleben, um, die sich nun tatsächlich schon im 10. Jahr ihres Bestehens befindet und seitdem zeigt, wie Inklusion gelebt werden kann. Bereits 2015 durften wir in unserem Magazin über die WG berichten und sind neugierig darauf, was sich in der Zwischenzeit getan hat.
Zuhause ist ein Gefühl. Ein gutes Gefühl.
Wir besuchen die WG an einem Freitagnachmittag. Nach getaner Arbeit bei der Lebenshilfe sind die beiden Bewohner Jonas und Tobias wieder zu Hause angekommen und empfangen uns gemeinsam mit ihrem Betreuer, Christoph Thomsen, an der Wohnungstür ihrer 4-Zimmer-Wohnung in der Paul-Lincke-Straße. Als Erstes zeigt Jonas uns sein Zimmer, wo er sich nach der Arbeit gerne ein bisschen ausruht und Musik hört. Dann wird auch schon mal das „Nicht stören“-Schild an die Tür gehängt, damit alle Bescheid wissen. Sein Mitbewohner Tobias, ebenfalls Autist, ist im Oktober 2021 in die WG gezogen. „Mit dem vierten Mitbewohner haben wir eine stabile Lösung gefunden“, freut sich Christine Töpel, die Mutter von Jonas.
Betreuung und Begleitung ... doch nur dann, wenn sie benötigt wird.
WG-Mitbewohner Tobias Scholz mit Christoph Thomsen, dem Teamleiter des Betreuungsteams, und Jonas Töpel (von links nach rechts)
Die Woche ist für Jonas und Tobias klar strukturiert. Dort, wo es nötig ist, werden sie vom Betreuungsteam unterstützt. „Jonas hat hier in den 10 Jahren viel mehr gelernt, als ich ihm zugetraut habe“, erklärt Christine Töpel. “So geht er zum Beispiel inzwischen selbstständig zum Friseur oder zum Supermarkt in der Nähe. Es kommt den beiden sehr zugute, dass sie hier im Haus und in ihrem Quartier vielen bekannt sind, ob bei REWE, beim Friseur oder in der Eisdiele. Wir haben hier außerdem eine gute Hausgemeinschaft, die wir auch pflegen und natürlich informieren, wenn es zum Beispiel einen neuen Mitbewohner gibt.”
Mut für neue Wege
Christoph Thomsen, der das Betreuungsteam der WG leitet, erlebt es im Gespräch mit anderen Familien häufig, dass die Kinder selbst bereit sind für den Loslösungsprozess, dass aber die Eltern viele Zweifel haben. „Ich kann da den Familien immer nur Mut machen, diesen Weg zu versuchen“, betont er im Gespräch. Gezielt leitet er Jonas und Tobias dort an, wo es nötig ist und hat dabei immer die individuellen Bedürfnisse der beiden im Blick.
Beispielsweise durch das Einkaufstraining, bei dem alle Schritte in Ruhe besprochen und geübt wurden, konnte Jonas seine Angst vor dem Bezahlen an der Kasse überwinden. Das Mobilitätstraining mit Tobias ermöglicht es ihm, inzwischen eigenständig mit dem Bus zur Lebenshilfe nach Gifhorn zu fahren.
“Dass man eben nicht aufgrund der Einschränkungen alles für sie macht, was zu Hause meistens so passiert, das klappt hier ganz toll”, freut sich auch Jonas’ Mutter Christine Töpel. “Sie werden hier angeleitet, ihre Wäsche zu machen und mit einbezogen bei der Planung der Mahlzeiten und beim Einkaufen.”
Gemeinsame Vision für Inklusion. Eine private Initiative macht vor, wie es geht.
Mit viel Engagement haben Christine Töpel und ihr Ehemann sich vor 10 Jahren auf den Weg gemacht, um für ihren Sohn Jonas, der von Autismus betroffen ist, eine Wohnform zu finden, die ihm ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht.
Es folgte eine beispielhafte Zusammenarbeit der Eltern und verschiedenen Stellen, die Unterstützung für Familien anbieten. Darunter waren die EUTB, die „Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung“, die sie zunächst zu den Möglichkeiten und Fragen der Finanzierung informierte. „VWI hat uns beim Finden einer geeigneten Wohnung unterstützt. Die Stadt Wolfsburg und das Sozialamt halfen uns dabei, die nötigen Anträge zu stellen, um die Betreuung sicherzustellen. Und wir fanden einen Dienstleister mit einem tollen Team“, erklärt Christine Töpel.
Als ihr Ehemann vor einigen Jahren plötzlich verstarb, übernahm Christine Töpel die Aufgabe allein, das WG-Projekt weiter mit viel Einsatz voranzubringen. Sie möchte anderen Menschen Mut machen und betont: „Man darf auch nicht unterschätzen, dass das für die Familien eine riesige Entlastung bedeutet.“
Fotos: Janina Snatzke